Arztbesuch: Anspruch auf bezahlte Freistellung?
Ein Arztbesuch während der Arbeitszeit kann ein unverschuldetes Arbeitsversäumnis mit Anspruch auf Freistellung sein, wenn der Arbeitnehmer von einem Arzt zu einer Untersuchung oder Behandlung einbestellt wird und der Arzt auf terminliche Wünsche des Arbeitnehmers keine Rücksicht nehmen will oder kann. Das hat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen entschieden.
Ein Arbeitnehmer hatte an einem Arbeitstag in der Zeit von 10.15 Uhr und 11.45 Uhr einen Arzttermin bei einem Facharzt für Orthopädie wahrgenommen und für die versäumte Arbeitszeit einen Antrag auf Freizeitausgleich gestellt. Der behandelte Arzt bot in seiner Praxis jeweils die letzten Sprechstundentermine montags bis donnerstags um 15.00 Uhr und freitags um 12.00 Uhr an, weshalb der Arbeitnehmer keinen Termin außerhalb seiner betrieblichen Arbeitszeit erhalten konnte. Der Arbeitgeber belastete das Arbeitszeitkonto des Arbeitnehmers für die Zeit des Arztbesuches, wogegen sich dieser mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht wandte.
Das Arbeitsgericht lehnte die Klage ab, das Landesarbeitsgericht (LAG) gab dem Arbeitnehmer dagegen recht (Urteil vom 8. Februar 2018, Aktenzeichen: 7 Sa 256/17). Die LAG-Richter verwiesen auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes, wonach ein Fall unverschuldeter Arbeitsversäumnis auch bei einem Arztbesuch vorliegen kann, wenn der Arbeitnehmer von einem Arzt zu einer Untersuchung oder Behandlung einbestellt wird und der Arzt auf terminliche Wünsche des Arbeitnehmers keine Rücksicht nehmen will oder kann. Aus Sicht des LAG war die Abwesenheit des Arbeitnehmers hier unumgänglich notwendig, weil ihm das Aufsuchen der Sprechstunde außerhalb der Arbeitszeit objektiv nicht möglich war.
Das Gericht stellte allerdings auch klar, dass ein Arztbesuch während der Arbeitszeit nicht bereits dann notwendig ist, wenn der behandelnde Arzt einen Arbeitnehmer während der Arbeitszeit zur Behandlung oder Untersuchung in seine Praxis bestellt. Der Arbeitnehmer müsse versuchen, die Arbeitsversäumnis möglichst zu vermeiden. Hält der Arzt außerhalb der Arbeitszeit Sprechstunden ab und sprechen keine medizinischen Gründe für einen sofortigen Arztbesuch, müsse der Arbeitnehmer die Möglichkeit der Sprechstunde außerhalb der Arbeitszeit wahrnehmen.
VAA-Praxistipp
Zu beachten ist, dass der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für seine notwendige Abwesenheit von der Arbeit trägt. Er muss die sogenannte Pflichtenkollision zwischen seiner Anwesenheit beim Arzt und bei der Arbeit benennen und eine entsprechende Bestätigung des Arztes vorlegen, dass kein Termin außerhalb der Arbeitszeit möglich ist. Der Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung beziehungsweise eine entsprechende Zeitgutschrift nach § 616 BGB kann zudem durch tarifvertragliche oder einzelvertragliche Regelungen abgeändert werden. Dort, wo Arbeitszeitsouveränität gilt, besteht im Zweifel die Pflicht, über die Abwesenheit zu informieren.