Gastbeitrag: Goethes Führungsfaust
Müde, verunsichert, rastlos. So begegne ich vermeintlichen Lenkern, Denkern und Gestaltern unserer Gesellschaft. „Es war ein anstrengendes Jahr“ – so lesen sich heute die Posts zum Jahresanfang in den sozialen Medien. Geschrieben von Getriebenen.
Getrieben vom Streben nach dem Erlebnis absoluter Daseinserkenntnis haben wir uns dem Konsumismus ergeben, der uns Erfüllung in Absolutheiten und vermeintlichen Selbstverständlichkeiten verspricht: Solange unsere Lüste kurzzeitig befriedigt werden, solange das Verlangen nach vermeintlich absoluter Erkenntnis für virale Verbreitung genutzt werden kann, verfallen wir dem Sog des Maelstroms, den wir „unser Leben“ nennen. Ein teuflischer Pakt.
Dopaminschübe und Viralität heilen aber keine unterliegenden Probleme, sondern sorgen höchstens für eine Sedierung der von uns geschaffenen Welt, in der sich hinter Headlines, Oberflächlichkeit und neuen Selbstverständlichkeiten eine konfuse und unsichere Gesellschaft versteckt.
Eine solch unbewusste, dämonische Abmachung scheint die Menschen davon abzuhalten, die Vitalität des Lebens zu spüren. Es fehlt das Wahrnehmen der eigenen Wahrnehmung, das Erleben der eigenen Erlebnisse. Wir haben eine metamoderne Welt geschaffen, in der ein binäres Denken in Absolutheiten – null oder eins – zu einer Gefangenschaft in eigenen Selbstverständlichkeiten führt. Grenzbefreite technische Möglichkeiten erzeugen die mephistophelische Illusion, wir könnten erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Indem wir dies als Versprechen und Ziel angenommen haben, ist unsere Gesellschaft rastlos in einem faustischen Streben nach Wissen geworden. Doch kann die Begierde nie durch eine absolute Wissensgesellschaft gestillt werden. Halt findet der Mensch nicht in einer absoluten Aufklärung einer fatalen Informationsgesellschaft, sondern in dem Streben nach Weisheit. Die Suche nach Fortschritt und besseren Erklärungen schafft die Grundlage für eine Gesellschaft des Verstandes.
Gleich Faust wollen wir nicht zum Augenblicke sagen: „Verweile doch, Du bist so schön!“ Folglich kann in unserer Welt Glück nicht erreicht, Sinn nicht gefunden werden. Aus jeder Erkenntnis erwachsen neue Ansprüche, die uns vom absoluten Ziel – sei es Glück, sei es Sinn – entfernen statt näherbringen. In dieser Welt, in der der Mensch mit sich und seinem Leben unzufrieden ist, liegt es an der Fähigkeit des einzelnen Menschen, diesen Widerspruch anzunehmen. Nicht ‚glücklich‘ kann sich der Mensch machen, sondern weniger unglücklich. Nicht Sinn wird er finden, sondern er besitzt die Fähigkeit, dem Leben einen eigenen Sinn zu geben. In dieser neuen faustischen Welt lösen wir den Pakt mit dem Teufel nicht durch Resilienz und Überwindung absoluter Krisen auf. Statt um eine Welt vorgegaukelter Meinungen und vermeintlicher absoluter Antworten und absoluter Erkenntnis sowie der Befriedigung der eigenen Lüste geht es um die Aktivierung zum Fortschritt, positiven Fortschritt.
Ein Weg findet sich in Führung (Leadership). Führung im Sinne der Selbstführung, jedoch auch in der Aktivierung von anderen digital abgelenkten und dopamingesteuerten Junkies der Neu-Welt. Die Annahme einer fundamentalen Erkenntnis, dass die Welt an sich nicht erklärbar ist, dass es nicht um eine absolute Antwort, sondern vielmehr um eine unterliegende Dynamik im Leben geht, ist unser Ausgangspunkt. Eben das Streben nach besseren Lösungen und Fortschritt, ist die Basis eines Goetheschen Führungsfausts. Es ist Anhaltspunkt und Inspiration in einer Welt, in der sich der Mensch in einem Leben voller Konsum und Konfusion verliert.
Wie würde ein Führungsfaust die wahrgenommenen dringlichen Herausforderungen unserer Zeit adaptieren? Nehmen wir uns drei konkrete Themen vor: den ökologischen Kollaps, den Umgang mit der Schöpfung digitaler Superintelligenz und organisiertes menschliches Leben.
Die Doktrin du jour mit ihrem ökohysterischen Aufschrei gleicht mitunter dem „Geist, der stets verneint“, und mit der Forderung nach einer absoluten Limitierung in gewissem Sinne auch „jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Nachhaltigkeit ist der gewählte Weg. Teuflisch ist, dass der Mensch offensichtlich nicht ausreichendimstande ist, ihn zu gehen. Ein Plädoyer für den vernünftigen Menschen – so zumindest erscheint es mir – ist ein Weg, der die Menschheit nicht mit hinreichend Kraft und Geschwindigkeit in die Lage versetzt, die Folgen eines möglichen Ökokollapses zu vermeiden. „Soziale Geschäftsmodelle“, „Impact Investment“ und „Das richtige und Gute tun“ werden gefordert. Und „Gutes“ passiert. Ja, wir können uns, zumindest in westlichen Wohlstandsregionen, limitieren. Ja, es geht um die Gestaltung einer „ressourceneffizienten“ Welt der Wiederverwendbarkeit – durch zirkuläre Ansätze. Aber wie viel mehr Potenzial steckt im faustischen Streben, das Neue, Unbekannte zu ergründen: in tatsächlichem – positiven – Fortschritt? Nicht Limitierung und Reduktion, sondern die Entfesselung der Möglichkeiten technologischer Entwicklung und menschlichen Wachstums.
Die exponentielle Entwicklung neuer Technologien wie Künstlicher Intelligenz und Quantentechnologie beschert uns die Demokratisierung von Wissen. Allerdings auch die Jagd in Richtung einer technologischen Singularität, die wiederum existentielle Bedrohungen mit sich bringen würde. Auch hierzu gibt es (noch) keine Antworten. Es geht um die Kunst, unrecht zu haben. Die Herausforderung liegt in der Aktivierung, in unserer Möglichkeit, bessere Fragen zu stellen. Nicht eine Wissensgesellschaft, sondern eben eine Gesellschaft des Verstandes ist das Ziel im Umgang mit der Schöpfung digitaler Superintelligenz. Das Problem liegt heute nicht darin, Probleme zu lösen oder das Unmögliche möglich zu machen, sondern sie zu verstehen.
Auch das organisierte menschliche Leben selbst stellt unsere metamoderne Welt noch immer vor existenzielle Herausforderungen für unsere Spezies. Geopolitische Konflikte sind Tagesgeschehen, die Forderung eines Restarts des (absoluten?) Kapitalismus, vermeintlich definierte politische Modelle und der Wunsch nach Dezentralisierung aller politischen Institutionen stehen im Raum – Faust auf der Suche nach Arkadien! Es gibt jedoch keine neue und fertig adaptierbare Form eines funktionierenden Sozialismus, die einen Kapitalismus ablösen kann. Marx hatte nicht recht, und nicht mal die Sozialisten unter sich können sich verständigen, geschweige denn die Kapitalisten. Den Restart eines Finanzsystems – was auch immer das bedeuten würde – sowie eine Dezentralisierung von politischen und/ oder ökonomischen Machtinstitutionen wird es wohl ebenso wenig geben, zumindest nicht ohne fatale Folgen.
So heißt es: „Es irrt der Mensch, solang’ er strebt …“ Nicht die Antwort gebe ich dir – die habe ich nicht, ich weiß es nicht, sondern mit dir möchte ich das Problem erkunden und daran arbeiten, um eben bessere Probleme zu (er)schaffen.
Was also tun, wenn die Revolution ausbleibt? Der dämonische Weg der Krise und Aufschrei wurde lange versucht. Das Vergöttern der absoluten Vorbilder der neuen Influencer ebenso. Wie wäre es nun mit einem neuen Versuch? Finden wir heute andere Vorbilder? Menschen, die sich selbst inspirieren, die eine Selbstführung beherrschen? Menschen, die zur Aktivierung beitragen und an eine neue Leistungskultur des Fortschritts glauben? Für die Kollektive? Die Antworten finden sich nicht in (vermeintlichen, weil kurzfristigen) Lösungen, sondern im (unendlichen) Fortschritt. Der widerstandsfähige Strebende wird zum verletzbaren und handelnden Menschen des Potenzials … Denn zugrunde liegt der aktiv gestaltende und selbstführende Mitmensch.
Ein Führungsfaust frei nach Goethe ist kein naiver Vorstoß, sondern vielmehr die Überzeugung, dass nur eine fundamentale Aktivierung einer neuen Leistungskultur der Weg für die Menschheit ist. Ein Weg, der mit einer kollektiven und auch häufig positiven Anstrengung verbunden sein muss. Fortschritt ist kein Naturgesetz, ist aber durch menschliche Anstrengung möglich. Und so stellen wir
uns dem Maelstrom des Lebens mit einem neoeklizistischen Tanz zwischen und an den Grenzen von Geist und Materie. Wir tauchen ein in den Leerräumen zwischen den Menschen, wo aus dem Unsichtbaren etwas Sichtbares wird – aus dem, was nicht ist, etwas wird: der Fortschritt. Die Führungsfaust schafft eine Grundlage für immer wiederkehrenden (positiven) Fortschritt. Mit Selbstvertrauen, Selbstführung und Verantwortungsübernahme wird eine vertrauensvolle Umgebung geschaffen, in der zwar Friktion entstehen, diese aber einen Weg hin zu besseren Problemlösungen und bahnbrechenden Innovationen weisen kann, und in der wir der mephistophelischen Versuchung mit Menschsein begegnen können.
Dieses Menschsein bedeutet Aktiviertheit, aus der heraus wir imstande sind, uns unseren eigenen Dämonen zu stellen und unser eigenes Leben (positiv) zu beeinflussen. Diese Kraft versetzt uns in die Lage, das Leben unschuldiger zukünftiger Generationen zu beeinflussen und zu verbessern. Und sollte dieses Jahr – gefühlt – noch anstrengender werden, so lohnt der Vergleich mit der wahrhaft teuflischen Verdammnis: Untätigkeit und Frustration.
Anders Indset können Sie live am 13. Juni 2024 auf dem Deutschen Führungskräftetag der ULA erleben.