Unconscious Bias“ in Beurteilungssystemen – Verzerrte Entscheidungen
Gastbeitrag von Professor Matthias Spörrle
Menschen stehen im Leben ständig vor Bewertungen und Entscheidungen. Aufgrund ihrer immensen Vielzahl verzichtet man daher auf eine analytische Entscheidung auf Basis der vollständig gesichteten Faktenlage und wählt stattdessen einen leichteren, schnelleren, aber eben nicht auf entscheidungsrelevanten Fakten basierenden Weg. Gemeinsam mit Professor Matthias Spörrle von der Privatuniversität Schloss Seeburg hat sich der ULA-Arbeitskreis Führungsfragen mit unbewussten Vorannahmen – auch Unconscious Bias genannt – in organisationalen Personalbeurteilungssystemen beschäftigt.
Kognitive Abkürzungen
Kognitive Abkürzungen werden aus ganz unterschiedlichen Entscheidungsbereichen berichtet: So neigen wir beispielsweise nach einem Produktkauf dazu, neu erhaltene Informationen, die gegen das Produkt sprechen, pauschal abzuwerten. Informationen, die unsere Entscheidung bestätigen, werden hingegen mit höherer Relevanz versehen. Es geht hier also nicht um optimale Informationsverwertung, sondern eher darum, dass wir es uns mit unserer Entscheidung nicht mehr schwer machen.
Ganz ähnliche Phänomene finden sich auch im Bereich der sozialen Wahrnehmung. Beispielsweise neigen wir dazu, Argumente von attraktiven Personen als überzeugender zu beurteilen. Dasselbe Argument aus dem Munde einer weniger attraktiven Person besitzt eine geringere Überzeugungswirkung. Solchen Verzerrungen fallen fast alle Menschen in gleicher Wirkrichtung zum Opfer: Wenige von uns finden ein Argument dann besonders überzeugend, wenn es von einer eher unattraktiven Person vorgebracht wird. Zahlreiche weitere Beispiele für solche systematischen Fehler – biases – sind belegt. Neben dem exemplarisch angeführten Beispiel der Attraktivität fungieren unter anderem als die Beurteilung systematisch verzerrende – und meist faktisch irrelevante – Merkmale seitens der beurteilten Person: die Körperform, die Ethnie (Nationalität, Hautfarbe etc.), das Geschlecht, die Körpergröße, die Stimmlage. Wir werden im Rahmen sozialer Beurteilungs- und Bewertungsprozesse systematisch durch Informationen beeinflusst, die für die eigentliche Beurteilung faktisch irrelevant sind. Denn die Attraktivität des Sprechers sollte keinen Effekt auf die Beurteilung des formulierten Arguments haben.
Ein weiteres Problem neben der systematischen Verfälschung ist die Tatsache, dass wir uns dieser Denkabkürzungen oft nicht bewusst sind – unconscious –, vielmehr „fühlt es sich so an“, als wäre das vorgebrachte Argument wirklich weniger plausibel. Dies erklärt auch, warum wir uns in entsprechenden Seminaren oder bei entsprechenden Befragungen eher als Opfer erleben und darstellen – viele von uns wissen von individuell widerfahrener Ungerechtigkeit zu berichten –, uns aber seltener auch als Diskriminierende und Ausgrenzende erleben, die aufgrund peripherer Merkmale beurteilen. Unser Selbstwert hat „kein Interesse daran“, uns diese nicht leicht verdauliche Erkenntnis zu vermitteln. Somit erleben wir – möglicherweise auch zu Recht – andere als Täter, uns selbst aber – zu Unrecht – nicht. Dies erschwert eine individuelle Einsicht in die Problematik und dementsprechend auch in mögliche Interventionsansätze.
Solche Suboptimalitäten im Rahmen unserer sozialen Beurteilungsprozesse können vielleicht noch mit einem selbstironisch-mitleidigen Lächeln quittiert und akzeptiert werden, wenn es um wenig relevante Interaktionen mit einer mitreisenden Person in der Bahn geht, die meist für die Beteiligten keine Weichenstellungen für zukünftige Entwicklungen darstellen. Nicht mehr akzeptabel ist es hingegen, wenn berufliche Potentialbeurteilungen – und damit Karrieren – durch solche Verzerrungstendenzen verfälscht werden. Hierbei geht es nicht nur um individuelle Ungerechtigkeit gegenüber den beurteilten Personen, sondern auch um eine nicht wahrgenommene Verantwortung vonseiten der beurteilenden Person für das Unternehmen, dem aufgrund von Entscheidungsverzerrungen wichtige Talente vorenthalten oder fälschliche vorgegaukelt werden. Das Reduzieren von Stereotypen in unserem Denken ist mehr als individueller mentaler Luxus: Es ist eine Verantwortung, der sich alle Menschen stellen müssen, die im Rahmen sozialer Systeme Verantwortung übernehmen wollen.
Auswege aus Verzerrungen bei professionellen Personalbeurteilungen
Welche Auswege bieten sich im Umgang mit solchen unbewussten Verzerrungstendenzen im Rahmen professioneller beruflicher Personalbeurteilungen? Grundsätzlich sind hier zwei Wege vorstellbar, die auch verfolgt werden. Der erste Ansatz fokussiert auf das Individuum und versucht mittels unterschiedlicher Interventionen, die individuelle Einsicht des Individuums zu erhöhen und zugleich seine Beeinflussbarkeit durch periphere und irrelevante Hinweisreize zu reduzieren.
In der Forschungsliteratur finden sich hoffnungsvolle Belege dafür, dass unbewusste Voreingenommenheiten auf Individualebene nachhaltig reduziert werden können: Zum Ersten durch die Präsentation von stereotypenentgegengesetzten Beispielen – zum Beispiel eine Frau, die als sehr erfolgreiche hochrangige Führungspersönlichkeit auftritt. Zum Zweiten durch die gezielte und forcierte Auseinandersetzung mit dem zu beurteilenden Individuum als Einzelfall – nicht mit den sozialen Kategorien, denen die Person zugehörig ist. Zum Dritten durch Perspektivenübernahme. Zum Vierten durch gezielte Interaktion mit der ansonsten stereotypenhaft bewerteten Gruppe. Entsprechende Impulse können im Rahmen von Entwicklungsmaßnahmen für die Personen mit Beurteilungsfunktionen im Unternehmen gesetzt werden.
Gleichwohl machen es sich Organisationen zu leicht, wenn sie denken, die Verantwortung für die Reduzierung von Bewertungsverzerrungen komplett an das Individuum und an die Personalentwicklung abgeben zu können. Vielmehr müssen parallel dazu als zweiter Weg vor allem organisationale Strukturen und Prozesse so gestaltet werden, dass die verzerrte Beurteilung erschwert wird. Besonders anfällig für Verzerrungstendenzen sind insbesondere informelle, wenig standardisierte, Abkürzungen – also Zeitersparnis – belohnende Entscheidungsprozesse, bei denen die beurteilenden Personen ihre Überlegungen nicht darlegen und rechtfertigen müssen sowie den Prozess weitgehend eigenmächtig und spontan gestalten können.
Standardisierte Prozesse mit klar vorgegebenen Abläufen sowie Beurteilungs- und Erfüllungskriterien, bei denen von Anfang an periphere Merkmale der zu beurteilenden Person wie etwa das Geschlecht so weit wie möglich ausgeblendet werden und bei denen eine Beurteilung durch klare Kriterien auch vor anderen zu rechtfertigen ist, sind weniger anfällig für Verzerrungstendenzen. Eine klare Standardisierung und explizite Formalisierung von Bewertungsprozessen, die sich zwar im Rahmen veränderter Anforderungen und Rahmenbedingungen ändern können und müssen, die aber zu einem gegebenen Zeitpunkt stets eindeutig und explizit sind, haben sich in vielen wirtschaftlichen und organisationalen Bereichen als äußerst hilfreich erwiesen – ob in der Gestaltung von Produktionsprozessen, im operativen Controlling oder in der Logistik. Die Forschung spricht in konsistenter Weise dafür, dass auch die Personalbeurteilung in all ihren Facetten von ähnlichen Entwicklungen profitieren würde.
Manche Menschen denken, dass sie aufgrund ihrer Intuition und Menschenkenntnis in der Lage sind, auch ohne standardisierte Verfahren und Prozesse „zu erspüren“, welche Leistung eine zu beurteilende Person für das Unternehmen erbringen wird. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Menschen sich irren. Ihr Eindruck rührt wahrscheinlich daher, dass sie sich aus Gründen des Selbstwerts mit höherer Wahrscheinlichkeit an die Entscheidungen erinnern, bei denen sie richtig lagen und mit geringerer Wahrscheinlichkeit an ihre nicht zutreffenden Beurteilungen. Ich auf möchte auf ein Problem aufmerksam machen: Wenn in den Personalbeurteilungsprozessen der Unternehmen noch informelle „Hintertürchen“ bestehen, durch die man ganz formlos hindurchschreiten kann, um eine – möglicherweise intuitiv richtige – Beurteilung abzugeben, werden auch andere durch diese Abkürzung hindurch folgen. Und verzerrt beurteilen immer die anderen Menschen.
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