Kommentar: Rücken zur Wand
Dr. Birgit Schwab, ULA-Vizepräsidentin
Die chemische Industrie in Deutschland kommt nicht aus dem Tief heraus. Sie durchlebt eine herausfordernde Phase aufgrund der gestiegenen Energiekosten und eines schwachen konjunkturellen Umfelds. Auch wenn sich die Gaspreise wieder verringert haben, hat die Branche weiterhin unter den weltweit hohen Strompreisen zu leiden. Produktion und Umsätze sinken kontinuierlich. Die Umfrage zur Lage der chemie- und Pharmabranche, die der VAA gemeinsam mit der DECHEMA durchführt hat, zeigt klar: Die Fach- und Führungskräfte sehen nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft unter den derzeitigen industriepolitischen Rahmenbedingungen ausgesprochen negativ. Sie klagen alle über die Energiekosten und langwierige Genehmigungsverfahren. Beinahe folgerichtig setzt sich der Befund im Investitionsverhalten der Unternehmen fort: Sie lenken ihre Investitionen viel stärker ins Ausland, während in Deutschland weniger neue Anlagen entstehen. Der Trend dürfte sich fortsetzen. In diesem Jahr wollen 80 Prozent der Betriebe ihre Investitionen im Ausland auf hohem Niveau halten oder sogar noch ausbauen, ergab eine Umfrage des Verbandes der Chemischen Industrie. Nahezu 70 Prozent planen hingegen keinen Investitionsausbau in Deutschland.
Immer wieder haben wir gemeinsam mit der ULA an die Politik appelliert und sie aufgefordert, für eine Entlastung der Wirtschaft zu sorgen. Es geht jetzt um eine echte Lösung der strukturellen Probleme. Der Ernst der Lage wurde in der Politik immer noch nicht richtig verstanden. Nun mahnt auch das Institut der deutschen Wirtschaft zum wiederholten Mal bei der Politik „dringenden Handlungsbedarf“ an: Die Attraktivität des Standorts Deutschland darf nicht noch weiter erodieren.
Einige Anzeichen geben Grund zur Hoffnung. Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck haben sich mit Verbänden und Ökonomen im Bundeswirtschaftsministerium zu Gesprächen getroffen und scheinen gegen die hohen Energiepreise und die überbordende Bürokratie aktiv werden zu wollen. Auch das Thema Unternehmensbesteuerung stand auf ihrer Tagesordnung. Es ging um Steuerrabatte für Unternehmen und um Anreize für Investitionen über staatliche Finanzhilfen. Da aber die Kassen leer sind und im Bundeshaushalt schon jetzt große Löcher klaffen, werden einzelne Sparmaßnahmen nicht ausreichen, um der Wirtschaft einen Neustart zu ermöglichen. Die Politik muss erkennen, dass ein großer Wurf nötig ist. Die deutsche Wirtschaft braucht ein großes Investitionsprogramm zur substanziellen Verbesserung der Infrastruktur und zur Unterstützung der Industrie. Und sie braucht eine klug konzipierte, strategisch angelegte Industriepolitik. Hat diese Regierung noch die Kraft dazu?