Zu den Wurzeln: In der Rückbesinnung liegt die Chance eines Neuanfangs für Europa
Gastbeitrag des ULA-Hauptgeschäftsführers in bdvb aktuell Nr. 136
Zur europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise ist zuletzt noch eine Sinnkrise hinzugekommen. Dabei hat die Gründungsidee der Europäischen Union nichts von ihrer Strahlkraft verloren. Was wir brauchen, ist eine Rückbesinnung auf ihre Grundwerte – und auf die gesellschaftspolitische Verantwortung von Industrie, Verbänden und Führungskräften.
Marode Banken, Massenarbeitslosigkeit, Staatsversagen und Steuererhöhungen, die stille Enteignung der Sparer im Norden und schließlich der Brexit: Europa steckt in der Krise. Die Probleme, unter denen wir heute leiden, haben ihren Ursprung aber viel früher. Es lohnt sich, die Vorgeschichte noch einmal Revue passieren zu lassen. Wer die Ursachen der Krise versteht, kann einen Ausweg finden. Ökonomen und andere Führungskräfte tragen dabei eine besondere Verantwortung.
Ursachen der Krise
Wie ist es zur Krise gekommen? Die Erhöhung der Mitgliederzahl und die Zunahme der wirtschaftlichen Unterschiede machten es schon seit den 90er Jahren immer schwerer, die Union zusammenzuhalten. Mit dem Euro wurde das Management noch komplexer, da es nun unterschiedliche Integrationsstufen gab. Politische Torheiten kamen hinzu, indem z.B. Griechenland in den Euro aufgenommen wurde, obwohl es die Kriterien weit verfehlte. Schließlich versetzte ausgerechnet eine deutsche Regierung (zusammen mit Frankreich) dem Prinzip der Vertragstreue einen schweren Schlag, indem sie den Stabilitätspakt ignorierte.
Dann die Osterweiterung: Die neuen Mitgliedstaaten stützten ihren Beitritt auf völlig andere Motive als die Gründungsstaaten Westeuropas. Ihnen ging es um militärische Sicherheit, wirtschaftliche Hilfen und Perspektiven der Marktwirtschaft. Die sonstigen Übereinstimmungen waren nicht so groß. Auch die demokratischen Traditionen waren weniger gefestigt.
Scheitern ehrgeiziger Strategien der EU-Kommission
Wer noch einen zusätzlichen Anhaltspunkt für die heraufziehende Krise benötigte, fand ihn im Scheitern der Lissabon-Strategie und der Strategie „Europe 2020“. Die Kommission hatte die ambitionierte Losung ausgegeben, Europa im Rahmen bestimmter Fristen zur weltweit leistungsfähigsten Region zu entwickeln. Sämtliche Ziele wurden verfehlt – ein immenser Imageschaden, gepaart mit dem Unvermögen, Fehler einzugestehen.
Es spricht eigentlich für die Robustheit Europas, dass alle diese Faktoren noch nicht ausreichten, um die EU zu Fall zu bringen. Dazu bedurfte es noch einer Reihe von externen Faktoren: Durch den Subprime-Schock geriet die globale Finanzwirtschaft ins Trudeln, Banken wurden gerettet, Staaten verschuldet. Finanzhilfen und Haushaltskürzungen konnten den Kollaps zunächst abwenden, führten aber zu Stagnation und Arbeitslosigkeit, politischer Polarisierung und extremem Wahlverhalten vor allem in den südlichen Mitgliedstaaten.
Flüchtlingskrise als vorläufiger Endpunkt des Niedergangs
Der vorläufige Endpunkt des Niedergangs war die Flüchtlingskrise 2015. Ohne sich mit den anderen EU-Staaten ausreichend abzustimmen, öffnete die deutsche Bundesregierung die Landesgrenzen und innerhalb kurzer Zeit strandeten rund eine Million Flüchtlinge in Deutschland. Zur Überraschung der Deutschen waren die meisten EU-Staaten nicht dazu bereit, ähnlich großzügig zu handeln oder helfende Länder wie Deutschland auch nur zu entlasten. Ausgelöst durch diese Enttäuschung begann die öffentliche Meinung in Deutschland, die europäische Integration zur Disposition zu stellen. Der gesellschaftsfähig gewordene Populismus hat diesen Stimmungsumschwung geschickt instrumentalisiert. Aber auch die Presse hat ihren Anteil daran, Europa „herunterzuschreiben“. Im Vergleich zu nächtelangen Krisensitzungen des Ministerrats, Verunglimpfungen der Bundeskanzlerin als „Zuchtmeisterin“ Europas usw. sind die täglichen Erfolge der EU im Bereich von Reisen, Handel, Ausbildung, Märkten und Produktion etc. keine Nachricht wert.
Gründungsidee hat nichts von ihrer Anziehungskraft verloren
Dabei hat die Europäische Einigungsidee, führt man auch sie auf ihre Ursprünge zurück, nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie aus den verheerenden Erfahrungen von zwei Weltkriegen, Tod, Flucht und Vertreibung geboren wurde. Es macht fassungslos, wie wenig von dieser existenziellen Erfahrung die neuen Protagonisten des Nationalismus verinnerlicht haben. Die Staatsmänner der Fünfzigerjahre, die die Union auf Frieden, Freiheit, sozialen Ausgleich und Kompromisse bauten, waren mit größerer Weitsicht ausgestattet.
Offenbar reicht die Argumentation mit geschichtlichen Zusammenhängen nicht mehr aus, um Begeisterung zu erzeugen. Wir müssen ein neues Narrativ entwickeln, eine Geschichte von der verheißungsvollen Zukunft aller Völker im geeinten Europa. Dies ist ein Prozess, in den alle staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen bis hin zu Schulen und Vereinen einbezogen werden müssen. Die digitale Vernetzung kann dies ermöglichen. Auch die öffentlich-rechtlichen Medien können wesentlich mehr tun, um über Europa und seine Vorteile zu informieren – ebenso wie manche privatwirtschaftlichen Unternehmen, die vom gemeinsamen Markt profitieren.
Vision heißt nicht: unrealistische Ziele setzen
Vision darf allerdings nicht heißen, dass wir uns unrealistische Ziele setzen. Um Vertrauen und eine neue Identifizierung mit Europa zu ermöglichen, sollten erreichbare Projekte formuliert und nachvollziehbar umgesetzt werden. In den Anfängen der EU gab es eine kluge Selbstbeschränkung der EU auf das Prinzip der Subsidiarität: Der gemeinschaftlichen Ebene wurde nur dann eine Regelungskompetenz eingeräumt, wenn der betreffende Bereich auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene nicht besser geregelt werden konnte. Wenn diesem Prinzip wieder mehr Beachtung geschenkt wird, erledigt sich der oft vorgebrachte Vorwurf der Brüsseler Regelungswut von selbst.
Entscheidende Rolle Deutschlands
Als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Mitglied der EU spielt Deutschland bei der Formulierung einer solchen Vision eine entscheidende Rolle. Viele Europäer sind der Ansicht, dass die deutsche Industrie besonders vom gemeinsamen Markt und der gemeinsamen Währung profitiert. Daraus resultiert die Erwartung, dass Deutschland sich überproportional an der finanziellen Gesundung Europas beteiligt. Auf der anderen Seite wird befürchtet, Deutschland könne wieder zur Hegemonialmacht werden. So wird das deutsche „Spardiktat“ als Unterjochung der schwächeren EU-Mitgliedstaaten angeprangert. Die Übernahme von Milliardenrisiken durch den deutschen Steuerzahler wird hingegen als selbstverständlich hingenommen.
Vor diesem Hintergrund muss Deutschland mit großer Nüchternheit agieren, seine Verantwortung wahrnehmen und Europa im wohlverstandenen Interesse der ganzen Union durch die Krise führen. Die aktuelle Bundesregierung ist dieser Aufgabe im Großen und Ganzen gerecht geworden. Kritisch wird es immer dann, wenn Deutschland den Anschein erweckt, Alleingänge zu unternehmen.
Innerhalb Deutschlands tragen wiederum die Führungskräfte, darunter viele Ökonomen, eine ganz besondere Verantwortung. Sie sind unabhängig im Urteil, wissen um die Bedeutung von Transparenz, Kommunikation und Kooperation, nehmen gegenüber ihren Mitarbeitern eine Vorbildfunktion ein und repräsentieren ihre Organisation nach außen. Was passiert, wenn die Leistungseliten einer Gesellschaft hinsichtlich ihrer politischen Verantwortung versagen, dokumentiert die deutsche Geschichte. Umso mehr Grund haben deutsche Führungskräfte heute, zum Erfolg des vereinten Europas beizutragen, indem sie Fehlentwicklungen benennen und Lösungen entwickeln – im privaten und beruflichen Wirkungskreis ebenso wie in Verbänden wie dem bdvb.